Aktueller Kommentar Dr. Koch 31.10.2025
Ist Deregulierung ernst gemeint?
In meiner beruflichen Arbeit als Professor für Regulierungsfragen konnte ich am 30. Oktober zum siebten Mal zur jährlichen Frankfurter Regulierungskonferenz einladen. Unser Thema lautete „Ist Deregulierung ernst gemeint?“. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, dass das der Fall ist. Aber wie ernst tatsächlich? Selbstverständlich sehe ich das auch in dieser akademischen Dimension mit den Augen eines Anhängers von Ludwig Erhard. Der wäre sehr besorgt, denn noch immer geht so vieles bei der staatlichen Regulierung in die falsche Richtung.
In Europa muss aufgeräumt werden
Es ist von großer Bedeutung, dass in diesen Tagen 19 europäische Staats- und Regierungschefs – inklusive des deutschen Bundeskanzlers – an die EU-Kommission geschrieben haben und endlich substanzielle Taten einfordern. Wenn man sich die Debatte in Brüssel anschaut, hat man bis heute den Eindruck, das Wort „Deregulierung“ ist dort unerwünscht. Dort geht es um „Vereinfachung“ und „Entbürokratisierung“. Aber die Abschaffung eines Berichts über die Erfüllung einer Regulierung ist keine Deregulierung. Gerade auf europäischer Ebene reicht das nicht.
Wenn man sich vor Augen führt, dass in der neuen Wahlperiode des Europäischen Parlaments die Europäische Kommission schon wieder 140 neue Initiativen vorgelegt hat, in ihren Abbau-Initiativen dem jedoch nur 25 Gesetzesrücknahmen und 20 Prüfungen laufender Gesetze gegenüberstehen, dann bekommt die Vermutung, dass Deregulierung nicht ernst gemeint ist, konkrete Gestalt. Hier muss Druck aufgebaut werden, der ganz sicher nicht von innen kommt. Der von den Staats- und Regierungschefs inzwischen vereinbarte Sondergipfel sollte deshalb ein Gipfel zum Abbau von Regulierung und nicht nur ihrer Vereinfachung werden.
Hausaufgaben in Deutschland
Aber Deutschland ist bislang kein Vorbild. Hier hoffen wir alle jetzt auf Karsten Wildberger, den Bundesminister für Digitales und Staatsmodernisierung. . Eine wirkliche Aufgabenkritik staatlicher Verantwortung ist lange überfällig und politisch schwierig. In der öffentlichen Diskussion wird zwar die „Unfähigkeit“ von Behörden kritisiert, aber die staatliche Garantenstellung für größtmögliche Berechenbarkeit und Sicherheit wird nicht hinterfragt. Deregulierung ist also im Abstrakten populär, im Konkreten stößt sie auf viele Widerstände betroffener Gruppen und auch der weiten Öffentlichkeit. Über Jahrzehnte standen die politischen Entscheider unter Rechtfertigungszwang, wenn sie einen Lebenssachverhalt keiner Regelung unterwarfen.
Der von den Bürgern ausgehende Rechtsgrundsatz, dass alles erlaubt sei, was nicht ausdrücklich verboten ist, mutierte so zu dem staatsorientierten Leitsatz, dass alles, was nicht ausdrücklich geregelt ist, eher gefährlich ist.
Politiker haben das Thema genau deshalb immer als eher negativ denn gewinnbringend betrachtet. Erst der jetzige Zustand des Zusammenbruchs überregulierter Strukturen und der starken Veränderung in anderen Volkswirtschaften wie den USA macht die Dringlichkeit bewusst. Ein deutscher Technik-Vorstand berichtet vor kurzem über seine erfolgreiche und stolze Entwicklungsarbeit in einem US-Forschungszentrum. Als er seine Erkenntnisse in seiner deutschen Einheit vortrug, war die erste Frage, wie das mit der Haftung geregelt sei.
Pragmatismus und verantwortliche Entscheidungen im Einzelfall
Das Tragen von Risiken und die Übernahme von Verantwortung ist ein Grundprinzip der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung. Diese Philosophie gehört auch in das Denken der staatlichen Regulierung und der öffentlichen Verwaltung. Ein Beamter der Bau- oder Umweltverwaltung muss erleben, dass es für seine Zukunft keinesfalls weniger belastend wird, wenn er Entscheidungen ausweicht. Er muss aber auch die Gewissheit haben, dass die Entscheidungen, die er mit überlegter Abwägung trifft, ihn nicht in persönliche und strafrechtliche Gefahren bringen, solange er seine sorgfältige Abwägung erklären kann.
Die Ausnutzung von Ermessensspielräumen muss in einer Staatsverwaltung die Normalität sein, ohne dass alle sofort danach rufen, dass jeder Sachverhalt ohne zu- und abgeben immer gleich zu behandeln sei. Fachlich gesehen stoßen wir da auf spannende Herausforderungen. Die deutsche Verfassungstradition sieht ihre wesentliche Herausforderung im Schutz des einzelnen Bürgers vor staatlichen Übergriffen. So behindern Grundsätze wie der Vorbehalt des Gesetzes, der Bestimmtheit des Gesetzes und der umfassende verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz genau diesen Mut zur eigenen Abwägung. Da steht der gesunde Menschenverstand still. Beamte sind nicht unwillig oder unfähig, aber sie fragen sich, warum sie Risiken tragen sollen, bei denen sie zum Schluss im Regen stehen bleiben.
Ermessen im Einzelfall ist keine Willkür
Damit aber kommen wir an einen sehr zentralen Punkt einer freien Gesellschaft. Gut begründete Ungleichheit bei Entscheidungen sind keinesfalls immer ungerecht, sie sind auch nicht automatisch ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3 des Grundgesetzes. Wenn der Sachverstand und die Autorität der Beamten mit gut dokumentierten Gründen eine Entscheidung treffen, dann soll und muss diese Entscheidung auch vor den Gerichten Bestand haben. Wenn Verwaltungsgerichte sich zu oft im plumpen Formalismus ergehen, kann der Gesetzgeber sehr wohl einen großen Ermessensspielraum zur Regel machen. Das ist viele Jahre unterblieben.
Dieses Recht zum weiten Ermessen kann vieles bewirken. Wenn eine kleine Population von Kammmolchen eine wichtige bauliche Maßnahme verhindert, dann kann in der Abwägung die Baumaßnahme wichtiger sein als der Fortbestand dieser Tierart genau da. Bei den vielen denkmalgeschützten Baulichkeiten kann die Errichtung neuer Gebäude in manchen Fällen bedeutender sein als der Erhalt eines weiteren Gebäudes der alten Zeit. Oder ein Radfahrweg darf auch einmal näher an einem Bachlauf verlaufen als das grundsätzliche Abstandsgebot vorgibt. Jedem fallen Dutzende solcher Beispiele ein. Die Rahmenbedingungen müssen gesetzlich dann so beschaffen sein, dass nur tatsächlich grob sachwidrige Entscheidungen von Gerichten aufgehoben werden können. Ansonsten hat der Entscheider tatsächlich Verantwortung und Gestaltungsmacht. Alle heutigen Einschränkungen der Entscheidungsmöglichkeiten der Exekutive werden formal mit der Sicherung der Freiheit des Einzelnen vor Behördenwillkür begründet. Aber heute müssen wir anerkennen, dass das Gegengift des Regulierungsdschungels der Freiheit des Einzelnen viel eindeutiger schadet.
Ein gutes Experimentiergesetz könnte ein Anfang sein
Diese Aufforderung zum Umdenken erfordert keine Revolution, wie wir sie in anderen Ländern von Argentinien bis zu den USA gerade bei staatlicher Regulierung erleben. Es kann Stück für Stück erfolgen, je nach Dringlichkeit und Mut. Ein Hoffnungsschimmer für Europa und für Deutschland kann das Instrument der Experimentierklauseln in Gesetzen (sogenannte Reallabore) sein. Der Deutsche Bundestag berät in einem wiederholten Anlauf über ein solches Gesetz für Deutschland. Bisher gibt es einen Entwurf, noch von der vorherigen Regierung formuliert, der von einer Flut von Bedenken anstatt einer Welle von Vertrauen gezeichnet ist. Aber das wird sich im Parlament hoffentlich ändern. Die Vorzeichen stehen gut. Dann könnten verantwortliche Unternehmen und Bürger mit verantwortlichen Staatsdienern schnellstens zu besseren Entscheidungen kommen. Das wäre ein guter, ernst gemeinter Anfang.