Die Meinung von Dr. Koch zur Rentendiskussion
Nur eine solide finanzierte Rente ist eine sichere Rente
Der Deutsche Bundestag stimmt heute über ein wichtiges Gesetz zur Rentenreform ab. Dieses Gesetz hätte Ludwig Erhard schwer im Magen gelegen. Das erinnert an 1957, als Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und sein Finanzminister-Kollege Fritz Schäffer sich mit der von Konrad Adenauer bevorzugten Lösung einer umlagebasierten Finanzierung der Alterseinkommen nur schwer anfreunden konnten. Viele Mitglieder der Ludwig-Erhard-Stiftung würden als Abgeordnete auch am heutigen Tag aus grundsätzlichen Erwägungen ein „Nein“ bevorzugen.
Andere in unseren Reihen, die politische Verantwortung tragen, werden zustimmen. Ich persönlich würde mich wahrscheinlich zu einem „Ja“ überwinden, was ausschließlich daran liegt, dass ich am Ende den Prinzipien der Verantwortungsethik immer das letzte Wort geben will. Und die traurige Wirklichkeit ist, dass die der Sozialen Marktwirtschaft am ehesten gerecht werdende eigenverantwortliche und mit Kapital unterlegte Rentenversicherung außerhalb der CDU/CSU im Deutschen Bundestag gar keine Unterstützung hat. Daher sehe ich nur in der Aufrechterhaltung der Chance für den nächsten Kompromiss der jetzigen Regierungsparteien eine Option, die Altersversorgung nicht in ein Jahrzehnt des Chaos zu führen.
Jahrzehntelange Mahnungen wurden nicht gehört
Die Aufmerksamkeit für das Thema verändert sich. Seit Jahrzehnten verhallen die Rufe der gesamten Wissenschaft und mancher Politiker mit ihren Warnungen vor der Unmöglichkeit, das jetzige System in das Jahr 2040 und danach zu führen. In der Tat zeigen alle Prognosen, dass die Überlastung der aktiven Arbeitnehmer so groß sein würde, dass man demokratische Mehrheiten zur Aufkündigung der Generationensolidarität geradezu für sicher halten muss. Es geht also darum, in den wenigen nächsten Jahren einen Konsens in der Mitte der Gesellschaft zu finden, wie das System gerettet werden kann. Eine „Haltelinie“ von 48 Prozent im jetzigen System, wie es die SPD vertritt, ist angesichts der dazu notwendigen Umverteilungen über den Staatshaushalt keine ehrliche Botschaft an die heute 40- bis 60-jährigen Arbeitnehmer. Je deutlicher das wird – und da liegt die historische Aufgabe der neuen Rentenkommission– umso wahrscheinlicher ist ein vorsichtiges Umschwenken der SPD und die Lösung in der Mitte. Die absurden Vorstellungen von links und rechts mit noch viel höheren Haltelinien als die hier genannten 48 Prozent helfen ohnehin niemandem.
Ludwig Erhard, die Rentenreform 1957 und Lehren für die heutige Rentenpolitik
Wenn man die prinzipielle Dimension des Konfliktes verstehen will, lohnt sich der Blick in die Geschichte. 1957 stellte sich Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard gegen Bundeskanzler Konrad Adenauer – ein Konflikt um Prinzipien, der erstaunliche Parallelen zu heutigen Rentendebatten aufweist. Erhard warnte vor der vollständigen Abkehr vom Kapitaldeckungsverfahren und einer „dynamischen“ Umlagerente, das heißt die automatische Kopplung der Renten an die Lohnentwicklung. Adenauer hingegen forcierte diese Reform, um die Alten am Wirtschaftsboom teilhaben zu lassen und die soziale Lage der Rentner schlagartig zu verbessern.
Die Rentenreform 1957 bedeutete einen Paradigmenwechsel. Das bestehende System, das bis dahin zumindest in Teilen auf Kapitaldeckung beruhte, wurde vollständig auf das Umlageverfahren umgestellt. Gleichzeitig wurden die Renten deutlich erhöht und an die Löhne gekoppelt – die „dynamische Rente“ war geboren. Konrad Adenauer bezeichnete es als „sozialen Fortschritt allerersten Ranges“. Tatsächlich stieg der durchschnittliche Rentenzahlbetrag durch die Reform um weit über 60 Prozent, und Millionen Senioren konnten endlich vom Wirtschaftswunder mitprofitieren. Adenauers politisches Kalkül der sozialen Befriedung einer vom Krieg gebeutelten älteren Generation ging auf.
Der Streit Adenauer - Erhard
Hinter den Kulissen jedoch tobte ein heftiger Streit. Ludwig Erhard sah in der völligen Umlagefinanzierung einen Bruch mit dem Prinzip der Eigenverantwortung und warnte eindringlich, dass man in dieser Form sehenden Auges auf einen Versorgungsstaat zusteuere. Seiner Ansicht nach würde die „Blindheit und intellektuelle Fahrlässigkeit“, mit der diese Ausweitung des Wohlfahrtsstaates betrieben werde, am Ende nur ins Unheil führen. Mit drastischen Worten kritisierte er, Freiheit, nachhaltiger Wohlstand und wirtschaftlicher Fortschritt seien „mit einem System umfassender kollektiver Sicherheit auf Dauer gänzlich unvereinbar“. Er befürchtete, dass großzügige Versprechen zulasten künftiger Generationen gehen würden. Auch inflationäre Gefahren und geringere Investitionskraft der Wirtschaft führte er ins Feld, da stetig steigende Rentenzahlungen die Lohn-Preis-Spirale anheizen und Kapital vom Markt abziehen könnten.
Adenauer hatte einen anderen Ideen-Geber. Der Bonner Volkswirtschaftler Wilfrid Schreiber entwickelte 1955 ein Konzept zur Alterssicherung. Laufende Beiträge der Erwerbstätigen finanzieren die Renten der Älteren, und die Rentenzahlungen werden regelmäßig an die Lohnentwicklung angepasst. Schreiber argumentierte, dass angesparte Deckungsfonds in einer modernen Volkswirtschaft nicht mehr praktikabel seien und die Rente zur Existenzsicherung ausreichen müsse. Konrad Adenauer zeigte großes Interesse an diesen Ideen. Erhard und Finanzminister Fritz Schäffer standen dem Schreiber-Plan kritisch gegenüber. Ihre Mahnungen, man möge zumindest eine Sicherheitsreserve einbauen und die automatische Anpassung bremsen, verhallten weitgehend, denn Adenauer setzte auf vollständige Lohnkopplung. Sein ihm zugeschriebener berühmter Ausspruch „Kinder kriegen die Leute immer“ diente dabei als lapidare Absage an alle demografischen Bedenken.
Trotz starker Vorbehalte wichtiger Minister und vieler Experten wurde die Reform gegen Ende 1956 von Adenauer zur Chefsache gemacht. In der finalen Abstimmung am 21. Januar 1957 stimmten 397 Abgeordnete dafür; nur 32 dagegen, 10 enthielten sich. Zu den wenigen, die nicht mit Ja stimmten, gehörte Ludwig Erhard, der sich der Stimme enthielt. Vielleicht dient diese Erinnerung dazu, in diesen Tagen bewusst zu machen, dass auch unter Gleichgesinnten die Debatten nicht konfliktfrei verlaufen.
Erhards Sorgen bewahrheiteten sich
Bis zu Beginn der 1970er Jahre erfüllte die Rentenreform ihre Ziele. Sie beseitigte weitgehend die Altersarmut der Nachkriegszeit und stellte sicher, dass Rentner automatisch am wachsenden Wohlstand teilhatten. Inzwischen jedoch müssen immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentner finanzieren. Bereits im Jahr 2020 flossen rund 100 Mrd. Euro Bundeszuschuss in die Rentenkasse (etwa 26 Prozent des Bundeshaushalts) – ohne Kursänderung könnten es 2060 über 50 Prozent des Haushalts sein. Durch das Umlageprinzip entfallen Kapitalanlagen, die Erträge abwerfen könnten. Zudem führte der Verzicht auf Kapitaldeckung zu einem strukturell schwachen Kapitalmarkt in Deutschland – in den Nachkriegsjahrzehnten floss viel weniger Geld in private Altersvorsorge oder Aktien als etwa in den USA oder Großbritannien. Rentner sind dadurch vollständig von Lohnsteigerungen und staatlichen Zuschüssen abhängig, anstatt von historisch höheren Renditen auf Kapitalanlagen profitieren zu können.
Kommt der „Godesberg-Moment“ der Sozialdemokratie?
Selbstverständlich hat es über Jahrzehnte immer wieder Versuche gegeben, die Schwächen des aktuellen Systems zumindest zu mildern. 2004 wurde ein „Nachhaltigkeitsfaktor“ eingeführt, der die Rentenanpassung an die Bevölkerungsentwicklung koppelte, um die Lasten fairer zu verteilen. Doch wenige Jahre später setzte die Politik diese Bremse praktisch außer Kraft, indem sie die heute so heftig diskutierten Haltelinien einzog.
Ohne einen „Godesberg-Moment“ des Kurswechsels der deutschen Sozialdemokratie wird es nur kosmetische Veränderungen geben. Andere politische Mehrheiten für eine ökonomisch wünschenswerte Reform gibt es zurzeit nicht. Da liegt die Herausforderung für eine neue Kommission, wie sie jetzt gebildet wird. Bundeskanzler Friedrich Merz hat zu Recht darauf verwiesen, dass es eine Lösung nur in einer neuen Rentenformel unter Einschluss von kapitalgedeckter Finanzierung und Betriebsrenten als regelmäßige Ergänzung der staatlichen Rente geben kann. Eine angepasste längere Lebensarbeitszeit muss ohnehin hinzukommen. Diesen Weg zu öffnen ist die historische Herausforderung an die SPD.
Dabei kann Ludwig Erhard, wie in Bad Godesberg, ein weiteres Mal die Leitfigur bleiben. Er wollte keineswegs Rentnern etwas verweigern oder gar wegnehmen. Ihm ging es darum, den Wohlstand dauerhaft zu sichern, „auch im Alter gut versorgt“ zu sein, ohne die Grundlagen der Wirtschaft zu gefährden. Oder anders formuliert; nur eine solide finanzierte Rente ist eine sichere Rente!